„Nicht Pandemie-Relevantes kam unter die Räder“

Interview mit Joachim Lehmann, Geschäftsführer BU Medical Europe und Ina Baumgärtel, Leiterin Marketing und Kommunikation BU Medical Europe der Röchling SE & Co. KG

Wirtschaftsforum: Herr Lehmann, Frau Baumgärtel, geben Sie uns doch bitte zunächst einen kurzen Überblick über das Unternehmen und darüber, wie sich der Medical-Bereich entwickelt hat.

Joachim Lehmann: Röchling ist ein fast 200 Jahre altes Familienunternehmen. Der Medical Bereich ist 2008 entstanden. Brensbach war der erste Standort, den Röchling erworben hat, um diesen Bereich aufzubauen. Dort haben wir 2010 mit einem Neubau mit hochmodernem Reinraum und Logistikhalle begonnen, dessen Fläche 2018 durch einen Anbau noch einmal verdoppelt wurde. Der Umsatz dieses Standorts ist von anfänglich acht Millionen EUR Umsatz auf heute 30 Millionen EUR gewachsen.

Ina Baumgärtel: Unser zweiter Standort für den Medical-Bereich in Neuhaus existiert seit 2002. Auch hier haben wir 2017 einen Neubau fertiggestellt. 2021 haben wir 50 Millionen EUR in eine Erweiterung, in erster Linie zur Fertigung von Primär-Packmitteln, investiert. Diese beiden Standorte konzentrieren sich auf Pharma und Diagnostik. In den USA wurden außerdem zwei Unternehmen erworben, die überwiegend in der Medizintechnik tätig sind, dazu ein weiteres in Deutschland und eins in China.

Wirtschaftsforum: Welche Bedeutung hat der Medical-Bereich für die Röchling-Gruppe?

Joachim Lehmann: Der Medical-Bereich ist der jüngste und somit bisher mit Abstand kleinste Teilbereich der Gruppe, der aber schnell wächst. Das Ziel war, einen Unternehmensbereich zu entwickeln, der weniger konjunkturabhängig ist als die anderen Bereiche Industrie- und Automobilkunststoffe. Der Markt nimmt uns wahr, und man weiß, dass Röchling beim Aufbau von neuen Geschäftsbereichen mit einem langen Atem ausgestattet ist und die notwendige Energie aufwendet.

Ina Baumgärtel: Gerade die Fortschritte in jüngster Vergangenheit haben uns absolut wettbewerbsfähig gemacht. Wir sind hochautomatisiert und daher in einer starken Position.

Wirtschaftsforum: Wie hat sich die Coronapandemie auf Ihr Geschäft ausgewirkt?

Joachim Lehmann: Die Pandemie ist eine Gesundheitskrise, die uns gelehrt hat, dass der Medical-Bereich nicht automatisch davon profitiert. Wir sind in verschiedenen Marktsegmenten unterwegs. Einige wie etwa das der elektiven Eingriffe haben extrem gelitten, in Deutschland und auch in den USA. Im Pharmasektor haben wir festgestellt, dass der Bedarf an Medikamenten rückläufig war, weil Arztgänge und damit Verschreibungen von Arzneimitteln ausgeblieben sind. Davon war auch der Diagnostikbereich betroffen. Alle Produkte, die nicht Pandemierelevant sind, sind unter die Räder gekommen. Stark forciert wurde dagegen der Bereich Disposables für COVID-19-Testungen. Stabil und unbeeinflusst von der Pandemie war der Markt für die Behandlung von Atemwegs-erkrankungen. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den Geschäftsberichten der großen Pharmaunternehmen wider.

Wirtschaftsforum: Welches Produktspektrum decken Sie ab, und welche Innovationen sind besonders interessant?

Joachim Lehmann: Diagnostik und Pharma sowie Surgery und Interventional sind unsere beiden großen Bereiche. Dazu kommt das Segment Fluid Management. Unsere Kunden sind Top-Unternehmen aus den Bereichen Pharma und Medizintechnik. Von den Top 20 im Pharmabereich findet sich rund die Hälfte in unserem Kundenportfolio.

Ina Baumgärtel: Wir stellen in erster Linie kundenspezifische und nur wenige eigene Produkte her. Eine Innovation im Bereich Pharma ist unser Produkt Sympfiny.Diese Kombination aus Flasche und Spritze dient der Verabreichung multipartikularer Medikamente, die in Form kleiner Kügelchen verabreicht werden. Im Bereich Primärpackmittel haben wir mit Connect-e-Cap einen Verschluss für Medikamentenflaschen entwickelt, der mit Sensorik und Elektronik ausgestattet ist. Er kann tracken, ob das Medikament korrekt eingenommen wurde, erinnert den Patienten an die Einnahme und kontrolliert die Lagerung. Im Zusammenspiel mit den betreuenden Ärzten kann über die Begleitsoftware verfolgt werden, ob das Medikament wie verschrieben eingenommen wurde. Hintergrund dieser Produktentwicklung ist, dass die Non-Adhärenz, die Nicht-Einhaltung von Medikamentenplänen, eine der größten Kostenbelastungen in den Gesundheitssystemen ist.

Joachim Lehmann: Wir bereiten uns damit auf Veränderungen im Gesundheitswesen vor. Der Trend geht dahin, dass in Zukunft keine Medikamente mehr bezahlt werden, sondern der Behandlungserfolg. Der Patient wird den Nachweis erbringen müssen, dass er alles tut, um gesund zu werden, und nur dann wird eine Therapie finanziert.

Wirtschaftsforum: Registrieren Sie bei Ihren Kunden, dass diese mehr Wert auf Nachhaltigkeit legen?

Joachim Lehmann: Ganz klar: Ja, und zwar schneller, als wir es vermutet hatten. Nachhaltigkeit ist ein Thema, das wir sehr ernst nehmen und ganzheitlich verfolgen. Aktuell planen wir ein Projekt, bei dem wir Rezyclat als Tragschicht für Produkte verwenden. Die produktberührende Beschichtung von Containern wird Neuware sein. Gerade im Zuge der Nachhaltigkeitsdebatte ist es uns wichtig, deutlich zu machen, dass Kunststoff kein schlechter Werkstoff ist und bessere Lösungsmöglichkeiten bietet als jeder andere Werkstoff.

Wirtschaftsforum: Wie weit ist Ihr Unternehmen in Sachen Digitalisierung?

Joachim Lehmann: Gruppenseitig setzen wir einen digitalen Transformationsprozess um. Das beginnt bei höheren Automationsgraden in den Fabriken. Wir beschäftigen uns mit künstlicher Intelligenz, um aus Daten, die wir generieren, Empfehlungen für Prozessanpassungen, -veränderungen und Ableitungen machen zu können. Smart-Factory und Industrie 4.0 sind wichtige Themen, mit denen wir in Brensbach und Neuhaus Flaggschiffe bei Röchling sind.

Wirtschaftsforum: Welche Ziele wollen Sie in den nächsten Jahren erreichen?

Joachim Lehmann: Ein großes Ziel für 2021 ist, unseren Rohbau in Neuhaus fertigzustellen. Am Markt fokussieren wir uns auf den Schutz vor COVID. Ein erstes Großprojekt mit Disposables für PCR-Tests haben wir in diesem Jahr sehr schnell realisiert und abgeschlossen. Mitte des Jahres werden wir ein Projekt mit Disposables für die Diagnostik starten. Unsere Vision ist, in fünf Jahren eine halbe Milliarde EUR Umsatz zu generieren. Mit unserem aktuellen Produktportfolio fühlen wir uns wohl. Wir werden es konsequent weiterentwickeln und ausbauen, mit Innovationen wie Connect-e-Cap, und diese am Markt führend platzieren.

Ina Baumgärtel: Ein großes Augenmerk liegt darauf, uns in den Wachstumsbereichen im Pharmasektor, zum Beispiel dem Markt für injizierbare Medikamente oder Bio-Pharmazeutika, besser aufzustellen. Als Anbieter von Komplettlösungen wollen wir uns mit Produktkombinationen und kundenrelevanten Dienstleistungen noch stärker positionieren.

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