Finanzwelt erklärt: Deutscher Mittelstand vernachlässigt seine Absicherung total

Teil 14: Deutscher Mittelstand vernachlässigt seine Absicherung total

Wirtschaftsforum: Herr Mudlack, der Handel mit Aktien ist heutzutage eine Selbstverständlichkeit und findet weltweit statt. Das war nicht immer so. Worin liegen für Sie die Ursprünge der (Aktien-) Märkte wie wir sie kennen?

Benjamin Mudlack: Die Börse wie wir sie heute kennen, geht auf den Kolonialismus zurück. Bereits im12. Jahrhundert wurde in den italienischen Städten Venedig, Florenz, Genua und Lucca gehandelt, bald auch in der Champagne und in Brügge. Hier trafen Geldwechsler, Kaufleute und Händler auf öffentlichen Marktplätzen zusammen, um Geschäfte abzuschließen. Dabei wurden alle möglichen Rohstoffe, fertige Produkte sowie Staatsanleihen und Währungen umgesetzt. Auch Kredite wurden vergeben und sogar die ersten Termingeschäfte abgeschlossen.

Im Laufe der Zeit nahm die Anzahl der Marktteilnehmer zu, und so stieg das Handelsvolumen. Damit wurden feste Regeln für den Handel notwendig, ebenso ein Handelsgebäude. Hier war die belgische Stadt Brügge Vorreiter: Sie verlegte den Handel in ein eigenes Gebäude und zwar in das Haus der Familie „van der Beurse“, die in ihrem Wappen drei Geldbeutel (lateinisch: bursa) führte und von 1257 bis 1457 dort ansässig war. Damit war der Begriff für diesen Handelsplatz geboren: Börse! In Deutschland sind die ersten Börsen in Nürnberg und Augsburg mit dem Gründungsjahr 1540 bekannt. Das erste Gebäude welches ausschließlich für den Börsenhandel geschaffen wurde, entstand 1531 in Antwerpen. Von diesem Zeitpunkt an setzte sich bis in das späte 20. Jahrhundert der sogenannte Präsenzhandel durch.

Der Begriff Präsenzhandel leitet sich davon ab, dass die Marktteilnehmer physisch anwesend sind, um ihre Geschäfte durchzuführen. Weil der Boden, auf dem die Händler standen, später meist aus Parkett gefertigt wurde, wird diese Art des Handels auch als Parketthandel bezeichnet. Der Präsenzhandel wurde mittlerweile durch elektronische Handelssysteme weitestgehend abgelöst und automatisiert.

Benjamin Mudlack, Bankkaufmann und Dipl. Wirtschaftsinformatiker
„Man sollte die Menschen und explizit die Unternehmer ermutigen, die Märkte sinnvoll zu nutzen. Sei es zur Altersvorsorge oder als Absicherung gegen Kursschwankungen.“ Benjamin Mudlack

Wirtschaftsforum: Rohstoffe und damit verbundene Preisschwankungen haben eine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung des Aktienhandels gespielt. Wie genau sieht die Verbindung zwischen beiden aus?

Benjamin Mudlack: Wir könnten Beispiele für export- oder importorientierte Unternehmen anführen. Diese hängen am Tropf der jeweiligen Währungsschwankungen. Der Aktienkurs eines deutschen Unternehmens mit starkem US-Exportgeschäft könnte unter einem schwachen USD leiden, aber auch profitieren, wenn der USD an Stärke gewinnt. Aktienkurse von rohstoffverarbeitenden Unternehmen würden beispielsweise unter Druck geraten, wenn der betreffende Rohstoff extrem steigt. Aber auch Landwirte kämpfen mit den Schwankungen an den Getreidemärkten.

In Deutschland beobachten wir oft eine Art „Dämonisierung“ der Märkte. Dem trete ich entschieden entgegen. Man sollte die Menschen und explizit die Unternehmer ermutigen, die Märkte sinnvoll zu nutzen. Sei es zur Altersvorsorge oder als Absicherung gegen Kursschwankungen. Genau dieser Punkt der Absicherung/Hedging wird vom deutschen Mittelstand total vernachlässigt. Daraus resultiert auf lange Sicht ein enormer Wettbewerbsnachteil mit existenzbedrohenden Auswirkungen gegenüber den multinationalen Konzernen.

Was bedeutet also Hedging genau: Hedging oder Absicherung ist der Begriff für die Neutralisierung einer durch ein Handelsgeschäft entstandenen einseitigen Positionierung in einem Markt. Die Neutralisierung setzt man um, indem man die Gegenposition im Finanzmarkt über ein entsprechend zu wählendes Finanzinstrument eröffnet. Das Finanzinstrument ermöglicht es, nicht die volle Summe zu investieren, sondern nur einen Bruchteil. Man kann das ganze Thema auch als eine Art Versicherung bezeichnen.

Ich gebe Ihnen mit unserer heutigen Grafik ein konkretes Beispiel: Ein erdölverarbeitendes Unternehmen hat einen durchschnittlichen Lagerbestand an Rohöl im Wert von 10 Millionen USD. Nun fiel der Ölpreis ausgehend Mitte 2014 von etwa 100 USD pro Barrel auf knapp 25 USD zu Jahresbeginn 2016. Für unser Beispielunternehmen steht nun eine Neubewertung der Lagerbestände an. Der Wert ist um 7,5 Mio. USD gefallen und muss in der Bilanz korrigiert werden, was sich direkt und unmittelbar auf das jeweilige Geschäftsergebnis auswirkt. Findet ein derartiger Vorgang mehrfach und mit negativen Auswirkungen statt, so könnte die Eigenkapitalbasis des Unternehmens erheblich leiden. In der weiteren Folge wird dieser Umstand existenzbedrohend und gefährdet dann auch Arbeitsplätze und somit die Existenz ganzer Familien, was wiederum volkswirtschaftliche Folgen mit sich bringt.

Das Unternehmen aus unserem Beispiel hätte die Position im Lager neutralisieren können, indem es über den Terminmarkt die gleiche Summe veräußert. Das was die physische Position im Lager verliert, gewinnt der Terminkontrakt. Und so wäre die Entwicklung im Öl deltaneutral für das Unternehmen. Natürlich sollte man auch eine technische und fundamentale Analyse durchführen und die entsprechenden Wechselwirkungen miteinbeziehen, um zu schauen, ob eine Absicherung Sinn ergibt.

Sämtliche Unternehmer, die in der Außenwirtschaft tätig sind oder mit Rohstoffen agieren, könnten und sollten sich zwingend absichern und mit dem Thema intensiv auseinandersetzen. Das ist auch ein schöner, wenngleich komplexer Geschäftsbereich, für Banken. Anstatt nutzlose, intransparente und überteuerte Finanzprodukte zu vermarkten, sollte man sich auf lösungsorientierte Bereiche mit volkswirtschaftlichem Nutzen und tieferem Sinn konzentrieren.

Benjamin Mudlack, Bankkaufmann und Dipl. Wirtschaftsinformatiker
„Ohne die Möglichkeit, Investoren über den Verkauf von Unternehmensanteilen in die Gesellschaft zu holen und sich somit Kreditzinsen zu ersparen, wären die großen wirtschaftlichen Abenteuer nicht möglich gewesen.“ Benjamin Mudlack

Wirtschaftsforum: Es gibt nicht nur einen Markt, sondern Primär- und Sekundärmarkt mit entsprechendem Handel. Was hat es mit dieser Zweiklassengesellschaft am Parkett auf sich?

Benjamin Mudlack: Mit Zweiklassengesellschaft hat das relativ wenig zu tun. Der Primärhandel bezeichnet die vorbörsliche Finanzierung von Unternehmen. Investoren erhalten gegen ihre Investitionssumme Unternehmensanteile. Die primäre Beteiligung findet in der Frühphase der Unternehmung statt und ist somit recht spekulativ und mit enormen Risiken behaftet. Diesen Investoren der ersten Stunde bietet man im weiteren Verlauf einen sogenannten Exit mittels Börsengang (IPO). Durch den Börsengang wird die geregelte Handelbarkeit der Unternehmensanteile und somit der Sekundärhandel gewährleistet. Die Primärinvestoren können mit entsprechender Rendite und nach abgelaufener Sperrfrist verkaufen und ihre Gewinne realisieren.

Ohne die Möglichkeit, Investoren über den Verkauf von Unternehmensanteilen in die Gesellschaft zu holen und sich somit Kreditzinsen zu ersparen, wären die großen wirtschaftlichen Abenteuer und viele Entwicklungen im 18., 19. und 20. Jahrhundert nicht möglich gewesen. Bereiche, die stark mit Investorenkapital finanzierten wurden, sind Eisenbahn und Schifffahrt, der Suezkanal, die Erschließung von Minen und Ölquellen sowie die moderne Produktionsindustrie der Automobil-, Luftfahrt- und Elektronikbranche. Heute werden zum Beispiel viele Unternehmen aus den Bereichen Biotech, Automatisierung/Robotik und Digitalisierung/IT über diesen Weg kapitalisiert. Dieser Bereich der Finanzierung ist ein wichtiger Baustein für den technologischen Fortschritt und die Entwicklung der Volkswirtschaft im Allgemeinen.

Lesen Sie den 15. Teil unseres Expertenwissens "Finanzwelt erklärt":
Erfolg hat viele Gesichter: Buffett investiert, Soros spekuliert

Tags
Nach themenverwandten Beiträgen filtern

Das könnte Sie auch interessieren

Präzision, Kontinuität und Leidenschaft

Interview mit Linus Diener, COO der Diener AG Precision Machining

Präzision, Kontinuität und Leidenschaft

Ein Familienunternehmen auf operativer Ebene zu übernehmen und langfristig in eine erfolgreiche Zukunft zu führen, ist eine Herausforderung – erst recht, wenn man sich kurzfristig flexibel in eine solche Position…

Die Piste genießen, die Natur bewahren

Interview mit Necip Lucian, Geschäftsführer der Bergbahn Lech-Oberlech GmbH & Co. KG

Die Piste genießen, die Natur bewahren

Schneesicherheit. Das Zauberwort für eine erfolgreiche Wintersaison und ein ungetrübtes Pistenvergnügen. Im Skigebiet Lech-Oberlech in Österreich ist Skifahren häufig von Dezember bis April möglich. Die Bergbahn Lech-Oberlech GmbH stellt sich…

Für eine luftdichte Verbindung

Interview mit Stefanie Bindzus, Geschäftsführerin der ITV GmbH

Für eine luftdichte Verbindung

In der Pneumatik wird Druckluft oder Gas zum Antrieb von Werkzeugen oder Maschinen verwendet. Dazu werden Steckverbinder und Systeme benötigt, um die Luft sicher von A nach B zu bringen.…

TOP